36th Season 2024
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Musikalischer Brückenschlag über den Atlantik:

15 Jahre "Spectrum Concerts Berlin"

Mit leisen Tönen zum Erfolg

Januar 2003

 

"Das man auch mit Kammermusik zur Völkerverständigung beitragen kann, zeigt das ungewöhnliche Projekt Spectrum Concerts Berlin"

von John H. Beck

 

Selbst wer Spectrum Concerts Berlin über 15 Jahre hat  gedeihen sehen, gerät über dieses außerordentliche Projekt immer noch ins Staunen: Ein Neuankömmling aus dem Ausland trifft in einer abgeschotteten, im Wandel begriffenen Stadt ein;  ohne festes Einkommen, ohne Zuschüsse oder Subventionen nimmt er ein hoch ambitioniertes musikalisches Vorhaben in Angriff, das zugleich einen ungewöhnlichen, gleichsam inoffiziellen Kommunikationsversuch mit den Mitteln der amerikanischen Kammermusik darstellt, denn er lässt bislang unbekannte Töne in der ehemaligen (und bald darauf neuen) Hauptstadt des Heimatlandes der Musik erklingen. Dieser Wanderer zwischen zwei Welten kommt in eine Stadt im Umbruch und stößt dort auf fruchtbaren Boden für seinen Entschluss, ganz etwas Neues zu wagen.

 

Dem Rezensenten und Freund scheint, dass es Frank Dodge mit seinem Vorhaben von Anfang an um mehr ging als rein Musikalisches: Um den Gedanken nämlich, dass Nationen und Völker sich wieder anzunähern haben und aufrichtig miteinander reden müssen – unabhängig von Verhandlungskommissionen. Mögen seine Absichten auch in diesem weiteren Sinne auf die Kultur insgesamt zielen, so versucht er sie doch mit musikalischen Mitteln – dem Verflechten von Themen und Kontrapunkt – zu erreichen. Geleitet ist er dabei von der Einsicht, dass die „Kultur“ aus ihrem Nischendasein befreit werden muss,  sei es aus der staatlich subventionierten Riesennische in Deutschland oder aus der kleinen, privat finanzierten in Amerika, und neue, freie Verbindungen einzugehen hat.

 

Neue Verbindungen sind angesichts der amerikanischen Vormachtstellung dringend vonnöten. Nicht einmal 100 Jahre ist es her, dass Amerikaner in großer Zahl zur musikalischen Ausbildung nach Deutschland kamen, und in den USA war die große Bevölkerungsgruppe deutschstämmiger Amerikaner bekannt für ihre Liebe zur Musik, insbesondere zu Gesang und Hausmusik. Heutzutage exportiert mein Heimatland Kultur – oder Kulturgüter – in Megatonnen, wobei deren Inhalt gleichgültig ist; Haupt-sache, der Profit stimmt. Natürlich entsteht in den USA noch wirkliche Kunst, aber die staatliche Subvention für sie ist im Schwinden begriffen.

 

Der in Amerika zum Multimillionär gewordene, aus Ungarn stammende George Soros beklagte letztes Jahr, dass der amerikanische Idealismus seit 1989 als nationaler Leitgedanke ausgedient habe und durch „geopolitischen Realismus“ ersetzt worden sei. Ohne das Gegengewicht eines alternativen sozialen und ökonomischen Ideals (wie falsch auch immer in Sowjetrussland umgesetzt) ist die amerikanische Exportkultur ein Erzeugnis uneingeschränkter wirtschaftlicher Macht – und vermittelt jenen Werteverfall, der wohl eine zwangsläufige Begleiterscheinung uneingeschränkter Macht ist. Kaum jemand hält es mehr für nötig, einen Kulturbegriff zu vertreten, der sich durch größere Nähe, Sensibilität und Sinnhaftigkeit auszeichnet. Es gibt gute Pop- und Unterhaltungs-musik in den Staaten, gelegentlich auch großartige Filme, doch sie schwimmen auf einem Strom ausbeuterischer Schrottprodukte, die oberflächlich, voller Gewalt und plump verführerisch sind. Über die Bedeutung von Kunstwerken bestimmt heute nur noch der  Dollar.

 

Die Amerikaner selbst spüren das Elend ihrer Kulturexporte nicht ganz so deutlich, weil im Land verschiedene Faktoren dem Kulturverfall entgegenwirken. Dazu gehört etwa ein (alle Einzelgebiete zusammengerechnet) millionenfaches Engagement für soziale Belange, das Zeugnis ablegt über menschlichere Werte und andere als finanzielle Interessen. Die Gründung von nichtkommerziellen Rundfunk- und Fernsehsendern in den 70er und 80er Jahren belegt den Siegeszug dieses anderen, humanen Amerikas ebenso wie der langsame, aber sichere Fortschritt in der Durchsetzung der Menschen-rechte, im Kampf für den Umweltschutz und in der Herausbildung eines globalen Be-wusstseins. Ein feiner Unterton dieser weitreichenden Koalition des Gewissens spiegelt sich in Musik wie der von Robert Helps, dessen „Nocturne“ die Pfade eines Selbst-portraits von van Gogh abschreitet. Für die Zuhörer sprechend, schrieb Helps’ Zeit-genossin, die Dichterin Adrienne Rich: „That is why the jazz and classical music stations play / to give a ground of meaning to our pain?” (Frei übersetzt: Deshalb gibt es Sender, die Jazz und klassische Musik spielen: um unserem Schmerz einen Sinn zu unterlegen?)

 

Eine Geste der Heimkehr

 

Werke wie dieses bahnen sich seit nunmehr 15 Jahren auf den regulären Saison-konzerten und in den American Music Weeks von Spectrum Concerts einen Weg in die Seelen des Berliner Publikums und treten in ein Zwiegespräch mit intimen musikali-schen Meditationen aus Mittel- und Osteuropa. Gewiss, ein Tropfen nur, aber einer, der womöglich vermag, in gleichsam homöopathischer Dosierung, das Grundwasser einer ganzen Region aufzufrischen. In gewissem Sinne ist es eine Geste der Heimkehr: die musikalischen Lehrlinge aus der neuen Welt von 1890 antworten nun, Generationen später, durch Copland, Harbison, Helps und andere einem Deutschland, das unter-dessen sein kulturelles Selbstvertrauen verloren hat. Unsere Welt braucht heute nichts dringender als ein vielstimmiges Gespräch , in dem ein (in musikalischer und anderer Hinsicht) aufrecht vertretener amerikanischer Idealismus auf Stimmen aus Europa und anderswo trifft. Nordamerika und Europa sind nur ein kleiner, wenngleich wohl-versorgter Bruchteil der Menschheit.

 

Wir leben heute auf einem Planeten, der in seinem Bewusstsein geeint ist; die Mensch-heit erkennt allmählich, dass sie eine Identität hat, die Millionen von Individuen vereint. „Bildung“ – der grundlegende Gedanke, dass die Selbsterziehung und -verbesserung den wesentlichen Sinn des individuellen Lebens ausmacht – ist ein unverzichtbarer Bestandteil des neu entstehenden globalen Menschenbildes. Dieser Begriff muss ein Gegenwicht bilden zu dem zwanghaften Wettbewerb anglo-amerikanischer Prägung. Nach amerikanischem Verständnis bedeutet Bildung „how you play the game“. Auf der Stufenleiter von kategorialen Fragen, die vom unbelebten Ding bis zum beseelten Menschen alles Seiende erfasst, haben Amerikaner, Individualisten von Natur aus, ein Talent für das „Wie“, das zu einem greifbaren „Was“ führt. Für sie kommt es darauf an, wie man gewinnt, weil Gewinnen alles ist. Nun sind auch die Deutschen im Gewinnen nicht schlecht, aber in ihrer Tradition spielt neben dem „Wie“ auch „Warum“ und „Wer“ eine nicht unbedeutende Rolle. Darin beruht vielleicht ihre „Seelentiefe“, die einen wichtigen Beitrag zum menschlichen Miteinander darstellt.

 

Wie praktiziert man Wettbewerb in der Kammermusik? Nicht als Solist, taub für die andern. Der „Gewinner“ bei kreativer künstlerischer Ensemblearbeit ist, wer anderen am besten zuhört, wer die besonderen Gaben der anderen erkennt, fördert und zu Tage bringt. (Was nicht unbedingt mit dem Begriff Multilateralismus belegt werden muss.) Und um welches „Produkt“ handelt es sich hier – das vergeht, kaum dass es erklungen ist, und doch widerhallt im Kopf und im Herzen derer, die wirklich zugehört haben? Es gibt ein gewaltiges „Was“ in den zarten und seltenen Instrumenten und ein „Wie“ in den Bögen, Saiten, Tonarten und Formen, aber die Erhabenheit des „Wer“ und „Warum“, wie sie etwa in Schuberts C-Dur-Quintett oder Helps’ „Shall We Dance“ erreicht wird, ist etwas Übernatürliches –  oder  im Sinne Goethes eine Fortentwicklung der Natur.  

 

Die menschliche Seele stärken

 

Man mag es für verrückt halten, die Spalten einer Zeitung mit solchen Gedanken zu füllen. Gibt es nicht wichtigere Themen? Sollten wir uns nicht lieber fragen, was im Irak geschieht, an der Wall Street, mit den AIDS-Kranken in Afrika, oder uns mit dem Leid der unzähligen Armen auf der Welt beschäftigen? Gewiss. Aber daneben sollten wir nicht das Gefühl verlieren für ganz einfache, grundlegende Dinge. Dazu gehört etwa die Fähigkeit, sich in das Bewusstsein eines anderen Menschen hineinversetzen zu können, ihm Raum in unserem Denken und Fühlen zu gewähren. Ist das nicht erst eine Voraussetzung für verantwortungsvolles und wirksames Sozialverhalten?

 

Wir müssen aufhören, voreinander davonzurennen oder gegeneinander zu kämpfen. Es hat den Anschein, als seien die Menschen bereit, kleine Räder in der gesellschaft-lichen Maschinerie zu werden, nur um die Qual und den Schmerz des Menschseins zu umgehen. Bei näherem Hinsehen erweist sich dies allerdings als Selbstmord. Der Musik und Kunst im allgemeinen kommt in der heutigen Welt eine unermessliche Verantwortung zu, vor allem in der Begegnung von Individuen und Kulturen. Ihre Verantwortung besteht darin, die menschliche Seele, die Seele der Menschheit zu erneuern und zu stärken, damit wir uns weiterentwickeln und die Qualität unseres Lebens verbessern können – denn die Verhältnisse erfordern das.

 

Jedes Land kann nur ein Bruchstück der menschlichen Fähigkeiten zum Ausdruck bringen; und einer Region, die seit jeher als „Mitte“ bezeichnet wird, kommt dabei besonderes Gewicht zu. Das Versagen der „Mitte“ beim „Spiel ihrer Stimme“ hat zur Folge, dass auch die Noten um sie herum nicht harmonisiert, nicht in eine organische, lebendige Beziehung miteinander gebracht werden können. Ganz abgesehen davon, ob staatliche Unterstützung vorhanden ist oder Einzelpersonen und Unternehmen als Förderer auftreten, neue und zeitgemäße Erfahrungen können immer nur durch die Initiative und persönliche Opfer einzelner Menschen entstehen.

 

Vielleicht macht das die besondere Leistung von Spectrum Concerts Berlin aus: dass es dieser Mitte des kulturellen Weltgesprächs einige wahrhaftige und dringend erforderliche Töne hinzufügt. Was auch immer unser Platz, unsere Arbeit und unsere Fähigkeiten sein mögen, wir alle könnten versuchen, Gleiches zu tun.

 

John H. Beck

 

Deutsche Übersetzung

Anne Vonderstein und Karl Maroldt

English Original als PDF
John H. Beck - BERLIN THOUGHTS (Eng).pdf
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