36th Season 2024
36th Season 2024 
ERWIN SCHULHOFF

 

 

Die Konzertreihe erinnert an den Pionier der Jazz-Komposition in Europa. Seine Kompositionen trafen den Nerv der Zeit in ihrer Mischung aus traditionellen Gattungen und einer vorsichtig erweiterten Tonalität.

 

Endlich Normal!

Eine Entdeckung: Spectrum Concerts Berlin widmen sich Erwin Schulhoff

 

Doppelt diskriminiert hält besser! Oder wie soll man das, bitte schön, sonst nennen?! Nachdem etliche Musiker in der NS-Zeit verfolgt und in Konzentrationslagern ermordert wurden, hat man ihnen das Label "KZ-Musik" angeheftet. Komponisten wie Pavel Haas, Hans Krása, Gideon Klein und Victor Ullmann wurden zuletzt, unter dieser Fahne segelnd, immerhin wieder ins allgemeine Bewusstsein zurückgeholt. Ein bitterer Nach-geschmack bleibt, da sich die Musiker ihre Rubrik gewiss nicht ausgesucht haben. Höchste Zeit, sie einfach als gute Musiker anzusehen.

 

Der wohl bedeutendste Komponist aus der Reihe der Verfolgten, und derjenige mit dem größten Œuvre, ist der 1894 in Prag geborene Erwin Schulhoff. Als einer der Ersten integrierte er den Jazz in die Klassik. Stärker als die von ihm geförderten Kollegen Schönberg und Berg nahm sein Werk eine politische Wendung – so wie man es bei Kurt Weill und später bei Paul Dessau und Hanns Eisler beobachten kann. 1932 vertonte Schulhoff das Kommunistische Manifest und geriet auf die Liste "entarteter Musiker". 1941 wurde er Sowjetbürger und in Prag interniert. Im Jahr darauf starb er an den Folgen seiner Deportierung und Inhaftierung im Lager Wülzburg in Bayern.


Wenn man Schulhoff jetzt erstmals ein ganz reguläres Portrait-Konzert im Kammer-musiksaal widmet, wo vier zentrale Kammermusik-Werke dem Klavierquintett von Schostakowitsch gegenübergestellt werden, so ist dies: eine Sensation an Normalisierung. Schulhoffs Streichsextett von 1924 vermittelt, so Veranstalter Frank Dodge, "eine Vorahnung von dem, was der Welt passieren wird". Und ist dennoch "komponiert für Musikhörer, nicht nur für Bürger einer sozialen Gesellschaft". Die Sonate Nr. 2 für Violine und Klavier entstand auf dem Höhepunkt der Wiener Schule- und Dada-Begeisterung Schulhoffs. Sein Duo für Violine und Violoncello ist das mit Abstand meistaufgeführte Werk des Komponisten. "5 Études de Jazz" für Klavier tänzeln vorweg.


Das Ganze wird im Rahmen der legendären "Spectrum Concerts" von Boris Brovtsyn (Violine), Maxim Rysanov (Viola), Jens-Peter Maintz (Cello), Eldar Nebolsin (Klavier) u.a. zum Besten gegeben. Nachdem die "Spectrum Concerts" unlängst akut abwick-lungsbedroht waren, beschied eine – selten kluge – Entscheidung des Berliner Ab-geordnetenhauses der Veranstaltungsreihe eine jährliche Förderung von 35.000 Euro. "Wir sind nunmehr entschlossen, bald unser 30-Jähriges zu feiern", sagt Initiator Frank Dodge. 


Diesen Durchhalteimpuls wird man auch brauchen. Langjährige Mitspieler wie die großartige Geigerin Janine Jansen konnten in der Krisenphase nicht gebucht werden. Jansen wird ab der nächsten Spielzeit wieder regelmäßig mit dabei sein. Die Arbeit der Reihe wird stets durch CDs bei Naxos dokumentiert; zuletzt mit einer sehr schönen Arensky-Aufnahme. Es sind die – auch aufnahmetechnisch – besten Produktionen der Firma. Hoch sollen die "Spectrum Concerts" leben! Und Schulhoff mit ihnen.

 

Kai Luehrs-Kaiser (Januar 2016)