36th Season 2024
36th Season 2024 

Spectrum Concerts Berlin wird 20 (1988 - 2008)

 

Musik und Sinn

von John Harris Beck

 

Die Geschichte dieses Kammermusikensembles ist wohl bekannt: Ein Widerhall von Goethes Chorus mysticus: das Unwahrscheinliche, hier wird’s Ereignis, das Uner-wartete, hier ist’s vollbracht. Das kaum Beachtete steht hier im Mittelpunkt. Und jede Mühe wird belohnt!

 

So bleibt also nur zu sagen: Herzlichen Glückwunsch zum 20-jährigen Bestehen! Dank an Frank Dodge, an die Musiker, an den Freundes- und Förderkreis. Ohne sie wäre es nicht zu den wundervollen Musikabenden gekommen, die so oft wahre Schöpfungsakte waren.

 

Statt die Geschichte des Ensembles hier noch ein weiteres Mal zu wiederholen, können wir den Anlass vielleicht nutzen, um über Musik nachzudenken. Über den großen Ozean der Musik, in dem Spectrum Concerts Berlin eine besonders schöne Strömung darstellt. Über das Geheimnis der Musik, das ja nicht weniger groß ist als das Ewig-Weibliche, von dem der Dichter spricht.

 

Über die Musik ist zunächst vor allem dies zu sagen: Die „tausend Jahre europäischer Kultur“, von denen Busoni sprach, gehören der Vergangenheit an. Ein neues Jahr-tausend ist angebrochen, und der Vergleich zu einer Raupe bietet sich an, die sich zur Puppe wandelt und sich anschickt, zum Schmetterling zu werden.

 

Welche neuen Gestalten nimmt die Musik an? Die heutige Musik beschwört ein weiteres Goethe-Bild herauf: den Zauberlehrling – und zwar in der Version aus dem Walt-Disney-Film Fantasia. Dort wird von Maschinen eimerweise Musik herbeigschafft, in der wir schwimmen.

 

Die ursprünglich erhabene Erfahrung ist losgelöst von ihren menschlichen Schöpfern und wird auf unnatürlichem Wege wiedergegeben.

 

Leonard Bernstein, der genau das in seinen letzten Lebensjahren stark empfand, hat deswegen so oft wie möglich Aufnahmen von Live-Konzerten gemacht.

 

Leben wir also im Zeitalter der Homunculus-Musik? Die Musik kommt zwar in ihrer alten Gestalt daher, aber irgendwie fühlt sie sich ermüdend an. Es bedarf einer be-stimmten seelischen Energie, um dieser erstarrten, leblos gewordenen Musik wieder Leben einzuhauchen. Mit jugendlichem Enthusiasmus gelingt es noch, die Musik tief zu empfinden, wiederzubeleben. Aber kaum kommt uns diese Energie abhanden, bleiben nur noch verkrustete Reste toter Musik in uns übrig.

 

Das ist eine erstaunliche Diagnose unserer Zeit. Die Zauberlehrlinge haben eine große Klangwelle über die ganze Welt ausgeschüttet. Meist handelt es sich dabei um „Pop“-musik voller Energie und Authentizität, aber auch nicht gerade arm an Wiederholungen und den immer gleichen Versatzstücken. Ihre Macher spüren nicht mehr viel Ver-bundenheit mit den musikalischen Errungenschaften der Vergangenheit. Und durchaus nicht nur die Ungebildeten allein sind es, die in Europa und Amerika klassische Musik für rein ornamental halten, ein Überbleibsel der aristokratischen Kultur vergangener Tage. Hübsch, aber nicht mehr weiter von Bedeutung.

 

Zugleich hat aber die Musik in unserer Zeit noch eine ganz andere Realität: In Asien etwa sind die Menschen regelrecht verrückt nach europäischer Kunstmusik. In China vergöttert man klassische Musiker heute wie Filmstars, und Japan zählt nicht weniger als dreitausend Symphonieorchester! Und das in einer Region, die Tausende von Jahren eigener Hochkultur aufzuweisen hat. Warum steht ausgerechnet dort die europäische Musik so hoch im Kurs?

 

Musik hat die Macht große und tiefe Gefühle zu transportieren. Sie verbindet uns mit etwas, das Raum und Zeit übersteigt. Sie berührt uns, verführt uns, erfreut und bewegt uns, ohne dass wir zu sagen vermöchten, warum.

 

Vielleicht gleicht sie darin der Macht der Träume. Nur dass sie ein Tagtraum ist. Und dass wir uns bei großartiger Musik sogar hellwach, noch wacher als gewöhnlich fühlen. Die Musik hat eine Realität, die die alltägliche, die uns umgibt, noch zu übertreffen ver-mag. In ihr ist ein Leben, von dem wir uns wünschen, es könnte das unsere sein.

 

Aber was genau ist diese Realität, die sich uns in der Musik vermittelt? Eine Formen-welt im steten Wandel, voll von Spannungen und Hindernisse, durch die hindurch sich uns das Gefühl vermittelt, gelebt und gelernt zu haben, klüger geworden zu sein, größer. Die sich nicht zurückhalten lässt, auch nicht mit Plattenaufnahmen, so wenig wie es Faust gelang, im Augenblicke zu verharren.

 

Musik kann also mit aller „Macht der Realität“ auftreten. Sie kann uns einen Schlag versetzen. Uns in die Luft emporheben und wieder niederschmettern. Sie kann uns an Orte führen, die auf keiner Landkarte verzeichnet sind, unser Wesen verändern, unserem Leben mehr Sinn verleihen.

 

Ist es nicht merkwürdig, dass die musikalische Entwicklung ausgerechnet in Europa ihren Höhepunkt erreichte? Und ist es bloßer Zufall, dass sich Europa just zu dieser Zeit auch anschickte, die Welt zu entdecken, zu erobern, zu globalisieren?

 

Schon 1598 lässt Shakespeare Lorenzo im Kaufmann von Venedig sagen:

 

Der Mensch, der nicht Musik hat in sich selbst,
den nicht die Eintracht süßer Töne rührt, 
taugt zu Verrat, zu Räuberei und Tücken; 
... Trau' keinem solchen!

 

Verrat! Betrug an Freunden, am eigenen Land, an Idealen, an der Menschlichkeit. Heimtücke! Die angeborene Klugheit darauf zu verwenden, Macht über andere zu erlangen. Räuberei! Nehmen, ohne zu geben. Will der größte Dichter der Bühne uns etwa sagen, dass die Musik in unserem Inneren all diese Schwächen zu besiegen vermag?

 

Und könnte es in einer Zeit, wo die Menschheit erstmals an der Schwelle steht, tat-sächlich zu einer Einheit zusammenzuwachsen, wo eine globalisierte Kultur entsteht, eine schönere Hoffnung geben als eine Welt ohne Verrat, Räuberei und Tücke – nur weil die Welt-Erschaffer, die Verantwortlichen einen Vorrat an hervorragender Musik in sich tragen?

 

Vielleicht ist es das, was Asien in den großen alten musikalischen Träumen der Euro-päer hört: Idealismus, Aufrichtigkeit, geistige Weite? Bei Bach und Mozart, Vivaldi und Beethoven, Debussy und Mahler, Schubert und Strawinsky und Copland. Nun, da Asien sich aufschwingt, zum einflussreichsten Kontinent zu werden, ist das jedenfalls ein schöner Gedanke, der Hoffnung erweckt.

 

Wenn es stimmt, dass die Musik die Kraft hat, uns zum Besseren zu ändern, dann sollten wir versuchen, sie immer bei uns zu tragen, und sei es auch nur in Form eines schwachen Abglanzes, einer Kopie.

 

Zum Abschluss dieser philosophischen Überlegungen möchte ich deswegen nur ganz schlicht das Eine sagen: Seit nunmehr zwanzig Jahren versucht Spectrum Concerts Berlin mit einem idealistischen und einfallsreichen Gründer, talentierten Musikern und treuen Freunden der Musik einen Raum zu schaffen, in dem sie ihr ureigenstes Wesen entfalten kann. Wenn wir uns berühren und vereinen, inspirieren, verändern und be-wegen haben lassen, wenn wir klüger geworden sind, gespürt haben, dass unser Leben einen Sinn hat, wenn wir uns als Teil eines größeren Ganzen gefühlt und die Macht der Liebe gespürt haben – dann ist es uns gelungen, nicht nur unsere Ohren, sondern auch Herz und Verstand bei diesen Anlässen zu öffnen.

 

Solche musikalischen Abende sind alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Wir sollten sie daher auch umso mehr genießen, Freunde mitbringen, die diese Kost zu schätzen wissen, und uns dankbar für die Gaben zeigen.

 

Das Universum kann nicht leer, das Leben nicht sinnlos sein, solange die Kunst Wunder wie diese vor unseren eigenen Augen und Ohren entfalten. Denn wir sind dabei, eine neue, weltumspannende Kultur zu errichten – in unseren eigenen Herzen.

 

John Harris Beck, 2008