Transatlantische Dialoge
Spectrum Concerts Berlin-USA debütiert in der Carnegie Hall
von Isabel Herzfeld (November 2006)
Ein geflügeltes Goethe-Wort besagt, im Streichquartett höre man „vier vernünftige Leute sich miteinander unterhalten“. Kammermusik wäre demnach eine Art von Sprache; eine vernünftige, zivilisierte zumal, die selbst Leidenschaften und Konflikte zur reiz-vollen, kunstvoll geformten Klangrede sublimiert. Allerdings eine, deren Verständnis einem engen Kreis von Kennern und Liebhabern vorbehalten scheint und die in ihrer traditionellen Verwurzelung im alten Europa ein wenig bildungsbürgerlich, nicht mehr so ganz zeitgemäß wirkt.
Wenn die Gesellschaft „Spectrum Concerts Berlin – USA, Inc.“ am 3. November ihr erstes Konzert in der Carnegie Hall veranstaltet, wird ein neues Kapitel in der Ge-schichte der Kammermusik aufgeschlagen. „Expanding the Language of Chamber Music“ hat sich das Projekt auf die Fahnen geschrieben, ein Anliegen, das sein künstlerischer Leiter Frank Sumner Dodge in Europa schon seit fast zwanzig Jahren verfolgt.
Als ausgebildeter Cellist kam Dodge 1982 von Boston nach Berlin. Die gesicherte Stellung in verschiedenen Orchestern – darunter bei den Berliner Philharmonikern – befriedigte ihn nicht – er träumte von freier Kammermusik. So rief er fünf Jahre später „Spectrum Concerts Berlin“ ins Leben, „eine verrückte amerikanische Idee“, wie er das nannte. Tatsächlich war dies in Deutschland damals unvorstellbar: ein Neuankömmling im eingemauerten West-Berlin, ohne Geld und nennenswerte Verbindungen, verwirk-licht eine hochkarätige Kammermusikreihe ausschließlich mit privater Unterstützung. Die Presse staunte nur so, wie solch ein exotisches Pflänzchen überhaupt überleben konnte: „Es scheint so, als hätten sich die Spectrum Concerts Berlin gleich mit ihrer ersten Veranstaltung einen Platz im Berliner Musikleben erobert“. Dabei hatte das Berliner Publikum die Namen Robert Helps, John Harbison und Tison Street, die auf dem Programm des Eröffnungskonzerts in der Akademie der Künste am 22. Januar 1988 standen, noch nie gehört. Mit Werken von Dvořák und Beethoven ergab dies eine einzigartige Mischung: Die Begegnung amerikanischer Avantgarde mit europäischer Tradition ist bis heute ein tragfähiges, über die Musik hinausweisendes Konzept geblieben, ein transatlantischer Dialog in der Sprache der Kammermusik.
Damit nicht genug: Es gelang Dodge, zweimal eine „American Music Week Berlin“ zu organisieren und mit Studenten der Berliner Musikhochschulen auf USA-Tournee zu gehen. Dort besuchte man wichtige Institutionen wie die Juilliard School oder das New England Conservatory, knüpfte Kontakte mit amerikanischen Komponisten, Rundfunk-sendern und Konzertveranstaltern. Und während es für das Berliner Projekt beschei-dene Zuschüsse von der Berliner Kulturverwaltung gab, nutzte Dodge jenseits des Atlantik die positiven Seiten privaten Sponsorings: spontane Hilfsbereitschaft und flexible, unbürokratische Organisation, mit der etwa Goethe-Institute und Hochschulen kostenlose Unterkünfte besorgten.
Auch in Berlin entstand bald ein Netzwerk, mit welchem Dodge seinen „Zögling“ durch alle Krisen und Konflikte bis in die 18. Konzertsaison gebracht hat. Hier bewahrheitete sich der Spruch: „Für jede Tür, die sich schließt, öffnet sich eine andere“ – gerade wenn sich das Ensemble veränderte oder die Honorare für das nächste Konzert bis zur letzten Minute nicht gesichert waren. Seit einigen Jahren sorgt ein Freundeskreis mit den Ehrenmitgliedern Rolf Liebermann und Wolfgang Stresemann, Robert Helps und John Harbison für finanzielle und organisatorische Stabilität. Als Ende der Neunziger Jahre mehrere Musiker die Spectrum Concerts verließen, lernte Dodge bei einem Wettbewerb wenig später die knapp 20 jährige Geigerin Janine Jansen kennen. Um sie herum formierte sich mit Julian Rachlin, Antoine Tamestit, Christian Poltéra und ande-ren ein junges Ensemble, das technische Brillanz, hinreißend lockere Spielfreude und Ausdruckstiefe perfekt vereint. Den Höhepunkten der Vergangenheit – darunter eine unvergessliche Vorstellung von Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ mit der Schauspielerin Eva Mattes zum zehnjährigen Jubiläum, fünf Jahre später die ein-drucksvolle Uraufführung von Laura Elise Schwendingers „Celestial City“, komponiert im Auftrag der Koussevitzky Music Foundation zum Gedenken an die Opfer des 11. September – fügten sie exemplarische Interpretationen vor allem von vergessenen, ins Exil getriebenen Komponisten wie Ernst von Dohnányi, Erich Wolfgang Korngold oder Ernst Toch hinzu.
Für diese Konzerte konnten Johannes von Dohnányi und der Toch-Enkel Lawrence Weschler gewonnen werden, die über ihre Großväter Auskunft gaben. Denn die musik-alische trans-atlantische Brücke wäre nicht vollständig, ohne der größten Katastrophe der Menschheit zu gedenken, des Holocaust, welcher der europäischen Kultur unheil-bare Wunden schlug. Mit der Einwanderung der verfolgten Komponisten erhielt Ameri-ka ein verpflichtendes Erbe, aus dem seinerseits wieder mannigfache Anregungen nach Europa zurückfließen konnten. Alle neuere amerikanische Kunstmusik, so Dodge, wurzele in Arnold Schönberg (und in Nadia Boulanger, könnte man hinzufügen) – selbst John Cage war kurze Zeit sein Schüler. Die heutige Neue Musik Europas wieder-um kann die Auffrischung durch Amerika, ihre unorthodoxen Wege, die auch Schön-bergs Wiener Schule und damit einen spezifisch europäischen Baustil weit hinter sich lassen, nicht missen. Wie eine Welle, wie Ebbe und Flut, gehen die Ideen zwischen den Kontinenten hin und her. Kann man da überhaupt zwischen „amerikanischer“ und „europäischer“ Musik trennen? Eher betonen die „Spectrum Concerts“ Zusammen-gehörigkeit, als dass sie Etiketten aufkleben. Ein Stück wie Aaron Coplands Klaviertrio „Vitebsk“, das 1929 eine skurrile Chagall-Landschaft aufspannt und zugleich in spitzen Klarinettenschreien künftiges Entsetzen vorausahnt, macht diese Einheit im Künstlerisch-Menschlichen zwingend deutlich.
In Berlin zeigt „Spectrum Concerts“, wie großartig amerikanische Kunst und Kultur sein kann und widerlegt damit ein immer wieder auflebendes europäisches Vorurteil. Amerika bringt „Spectrum Concerts Berlin – New York“ die Botschaft der eigenen, europäisch transformierten Erinnerung zurück: die materielle Absicherung auf privater Basis dient hier nicht ökonomischen Interessen – was immer auch Macht für den „Gebenden“ bedeutet – sondern beruht auf einem Vertrauensverhältnis, das in wirkli-cher Zusammenarbeit entsteht und gemeinsam Verantwortung für die Kunst wahr-nimmt. Ein solches gesellschaftlich-kulturelles Engagement ist in Deutschland noch zu selten, meint Dodge, es soll auch nicht die staatliche Verantwortung ersetzen. Nach der richtigen Lösung, vielleicht eine Mischung der beiden Systeme, muss man noch suchen – und dafür bedarf es offener, ernsthafter Gespräche, in der sich die Partner gegen-seitig akzeptieren, aber durchaus auch „erziehen“ dürfen. „Erziehen“ dürfen auch Künstler ihr Publikum. In diesem Sinne machen die Spectrum Concerts Kammermusik, als Solisten, die nicht taub gegeneinander sind, sondern sorgfältig aufeinander hören. Ehrenmitglied Richard von Weizsäcker sieht darin die „höchste Kultur in der Musik“ und bezeichnet diese Art des kulturellen Austauschs insgesamt als „transatlantischen Multilateralismus, der uns besonders am Herzen liegt.“ Auf vielen Ebenen spricht Spectrum Concerts Berlin den besten Kern des amerikanischen Individualismus und Idealismus an, wie er in Europa stets Vorbild war und ist.
Isabel Herzfeld